G. Stourzh: Der Umfang der österreichischen Geschichte

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Titel
Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010


Autor(en)
Stourzh, Gerald
Reihe
Studien zu Politik und Verwaltung 99
Erschienen
Wien 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
334
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Carlo Moos, Historisches Seminar, Abt. Neuzeit, Universität Zürich

Der vorliegende umfangreiche und vielfältige Sammelband präsentiert eine stattliche Reihe ausgewählter Arbeiten von Gerald Stourzh aus den letzten beiden Jahrzehnten zur Komplexität der österreichischen Geschichte, deren «Umfang» (so der Titel des ersten Aufsatzes) von allen Studien in der einen oder anderen Weise behandelt wird. So gewähren sie in ihrer Gesamtheit einen faszinierenden Einblick in ein ausgesprochen schwieriges Themenfeld. Der Autor, Emeritus der Universität Wien, ist denn auch wie wenige berufen, sich mit dem Facettenreichtum der untergegangenen Habsburgermonarchie zu befassen, der sich im österreichischen Nachfolgestaat in mancher Hinsicht weiter fortsetzte.

In der Folge sollen drei Fallbeispiele zur Illustration des komplexen Buchinhalts herausgegriffen werden: die erstaunliche Kontinuität in der Grundrechtsfrage seit dem «Ausgleich» von 1867, die Frage nach der Bedeutung der Ethnisierung der Politik in der ausgehenden Habsburgermonarchie und schliesslich die Schweiz im Kontext von Österreichs Neutralität.

Was den ersten Problemkreis anbelangt, so ist die Kontinuität in der Frage der Grundrechte von 1848 über 1867 bis heute von besonderer Bedeutung, weil in Österreich nach beiden Weltkriegen kein neuer Grundrechtskatalog zustande kam, dagegen – wie der Aufsatz zum Verfassungsbruch im Königreich Böhmen zeigt – eine erstaunliche Koda in den Verfassungskrisen von 1913 und 1933, als in Situationen von konstitutioneller Funktionsunfähigkeit seitens der Staatsgewalt zu «verfassungswidrigen, mit Notzuständen gerechtfertigten Normsetzungen» gegriffen wurde (155). Im diesbezüglichen Text untersucht Stourzh, auf welche Weise die mit kaiserlichem Patent vom 26. Juli 1913 vorgenommene Suspendierung der Landesverfassung Böhmens im Verwaltungsgerichtshof und im Reichsgericht zur Beratung kam. Im Verwaltungsgerichtshof wurde unter anderem auf den berühmten «Notverordnungsparagraphen » 14 der Dezemberverfassung von 1867 verwiesen, der mit Gesetzeskraft ausgestattete kaiserliche Verordnungen im Fall einer «dringenden Notwendigkeit» zulasse. Diese Rechtsansicht, nach der sich das kaiserliche Patent sowohl formell als auch materiell als Notgesetz erwies, war es, die sich im Verwaltungsgerichtshof durchsetzte. Auch das Reichsgericht bewegte sich im Endresultat auf der gleichen Linie. Zum einen zeigt die bis zum Aufsatz von Gerald Stourzh in Vergessenheit geratene Verfassungskrise von 1913, wie die extremen Spannungen des Nationalitätenkampfes die verfassungsmässige Ordnung strapazierten und die Institutionen insofern überforderten, als ethnische Minoritäten die parlamentarische Obstruktion als völlig normale Waffe einsetzten. Zum andern zeigt sie, wie «prekär» der «erst 1867 [...] etablierte Konstitutionalismus Altösterreichs war» und «wie leicht der vorkonstitutionelle monarchische Absolutismus in Krisensituationen gewissermassen ‹subsidiär› an die Stelle des gelähmten [...] Konstitutionalismus eintreten konnte» (155).

Der zweite Beispielfall findet sich im umfangreichen, englisch geschriebenen und einzigen bisher ungedruckten letzten Aufsatz des Sammelbandes, der von der Ethnisierung der Politik in der ausgehenden Habsburgermonarchie handelt. Er sticht im vorliegenden Band um so mehr heraus, als er dieses Grundproblem der späten Monarchie mit stupender Klarheit nicht zuletzt vor der Folie einer kritischen Auseinandersetzung mit Werken dreier amerikanischer Historiker (Pieter Judson, Jeremy King, Tara Zahra) analysiert. Im Gegensatz zu den drei Kollegen, die als Analysekategorie der ausgehenden Monarchie statt ethnischer Zielsetzungen die nationale Indifferenz präferieren, hält der Autor mit einer Reihe von Beispielen und schwergewichtig unter Verweis auf den mährischen Ausgleich von 1905/06 daran fest, dass gerade die Ethnisierung der Politik mit dem Ziel nationaler Autonomie der Monarchie ihr Ende bereitet habe. Eines der im Aufsatz am Rand erwähnten Beispiele ist die eindrückliche Karriere von Stourzh’ Urgrossvater als Justizbeamter (zuletzt Landesgerichtsrat) in Mähren, dem im vorliegenden Band unter dem Stifter’schen Titel «Aus der Mappe meines Urgrossvaters» auch ein eigener Erinnerungstext gewidmet ist.

Zu Problemen im Umfeld der österreichischen Neutralität finden sich zwei Texte, der eine zur Aussenpolitik in der NS-Zeit, der andere zur Entstehungsgeschichte des österreichischen Neutralitätsgesetzes von 1955. Von ihnen verdient der erste in schweizerischer Perspektive besonderes Interesse, weil er unter anderem die Frage aufwirft, ob nach Hitlers Machtergreifung 1933 und dann insbesondere 1938 eine «Verschweizerung» (186), d.h. eine Neutralisierung, Österreichs möglich gewesen wäre, was schon deshalb nicht der Fall sein konnte, weil eine Garantie durch das Deutsche Reich unerlässlich gewesen wäre, die aus naheliegenden Gründen fehlte. Von da erhält die 1938 vom Tessiner Bundesrat Giuseppe Motta explizit angestrebte (und erhaltene) Anerkennung der integralen Neutralität der Schweiz seitens NS-Deutschlands und Mussolini- Italiens eine grössere Relevanz, als man im Rückblick auf ihre Handhabung während des 2. Weltkriegs anzunehmen versucht ist. Was dagegen die Entstehungsgeschichte des Neutralitätsgesetzes von 1955 anbelangt, so stechen in den von Karl Renner 1947 angestellten Überlegungen die Analogien zur Schweiz besonders hervor, die dann Mitte April 1955 in die Moskauer Konsensformel «einer Neutralität der Art wie sie von der Schweiz gehandhabt wird» einfliessen konnten (219).

Wer sich dem komplizierten Problem des «Umfangs» der österreichischen Geschichte stellen will, ist bei Gerald Stourzh, einem Meister seines Fachs, aufs bestmögliche aufgehoben, wie sich auf jeder Seite seiner Texte zeigt, die immer systematisch angelegt und sowohl argumentativ wie in der sprachlichen Form äusserst präzis sind.

Zitierweise:
Carlo Moos: Rezension zu: Gerald Stourzh, Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010, Wien, Böhlau, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 721-722.

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